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Spuren der Schönheit

Reflexionen über einige Gemälde von Eva Paulin


„Ich male, um zu sehen und zu verstehen.“ So beschreibt Eva Paulin sehr knapp ihre Arbeitsweise. Auf den ersten Blick scheint das völlig logisch, und doch steckt etwas Merkwürdiges darin. Logischerweise würde man erwarten, dass sie sagt: Ich schaue, um zu verstehen, und was ich verstanden habe, male ich. Schauen, um zu begreifen – und erst dann malen. Das wäre die logische Reihenfolge. Aber das sagt sie nicht. Es beginnt mit dem Malen. Vor dem Malen sieht die Malerin nicht. Der Akt des Malens geschieht in erster Linie, um zu sehen – um der Malerin Augen zu geben oder ihre Augen zu öffnen. Auf jeden Fall, um etwas erscheinen zu lassen. Das Verstehen kommt später. Zuerst kommt das Malen, dann das Sehen, und erst danach das Verstehen – die Sprache, die Verknüpfungen, die Bedeutungen, die Codes, die Kultur …


Das Sehen geht dem Verstehen voraus und wird nie vollständig vom Verstehen ersetzt. Es bleibt immer ein unübersetzbarer Rest. Wörtlich: ein Rest, für den es keine Sprache gibt. Zwischen Sehen und Verstehen besteht eine unauflösbare Spannung. Jeden Abend sehen wir die Sonne untergehen. Wir wissen, dass sie das eigentlich gar nicht tut. Die Sonne geht nicht unter. Die Erde dreht sich um die Sonne, und für einen Teil der Erde wird die Sonne zu einem bestimmten Zeitpunkt unsichtbar, weil sich die Erde von ihr wegbewegt. Das wissen wir. Wir verstehen das. Und doch geht für uns jeden Abend die Sonne unter. Wir sehen es mit unseren eigenen Augen. Die Sonne geht unter – unter den Horizont. Dieser Horizont ist unsere Grenze des Sehens. Er ist die Linie, die die Landschaft unseres Blicks definiert. Was unter sie sinkt, verschwindet, und wir sehen es nicht mehr. Wir orientieren uns an diesem Horizont. Mit unseren Augen bestimmen wir unseren Platz in der Welt – lange bevor wir ihn verstehen und in Worte fassen können. In diesem Beispiel bleiben die Worte mit dem Sehen verbunden. Wir sagen noch immer, obwohl wir es besser wissen, dass die Sonne untergeht und am nächsten Morgen wieder aufgeht. Weil wir es so sehen.


Die Beziehung zwischen dem, was wir sehen, und dem, was wir verstehen und ausdrücken können, ist nie ganz klar. Liebeslyrik ist wahrscheinlich das beste Beispiel für diese Lücke. Das Sehen der Geliebten besitzt eine Intensität, die sich nicht vollständig in Worte fassen lässt, die das Konzept übersteigt. Nur die körperliche Berührung kann diese Kluft überbrücken – zumindest für eine Weile. In dieser Berührung wird das Wort ausgelöscht. Es wird zu einem Seufzer, einem Schweigen, einem Schrei oder Stöhnen destilliert. Gibt es eine Verbindung zwischen Berührung und Malerei? Wenn die Leinwand Haut ist, dann ist der Pinsel wie ein Finger, eine Hand, die diese Haut berührt, sie erzittern lässt und eine Spur hinterlässt. Und ist nicht auch das Sehen selbst – eine bestimmte Art zu sehen, ein bestimmter Blick – eine Form des Berührens? Wir werden vom Blick anderer berührt. Sie berühren uns mit Gleichgültigkeit, mit Feindseligkeit, mit Zärtlichkeit … und hinterlassen Spuren auf unserer Haut. Der Blick des Anderen schreibt sich in unseren Körper ein. 


Vielleicht sind alle Künste Formen des Berührens? Mit einem Pinsel, einem Meißel, einem Stift, einem Musikinstrument, einem Körper … Berührung ist eine Vibration der Haut. Resonanz. Die Haut steht für Sensibilität, Durchlässigkeit und Verletzlichkeit. Sie ist eine Oberfläche, auf der sich die Welt einschreibt – mit Zuneigung und Fürsorge oder mit Schmerz und Leid. Bühne, Papier, Leinwand – all diese Oberflächen, auf denen Kunst entsteht, bestehen aus Haut.


Natürlich sieht die Malerin etwas, bevor sie malt. Eva Paulin gewährt auf ihrer Website einen expliziten Einblick in ihren Arbeitsprozess, indem sie eine Reihe von Fotografien zeigt, die sie inspiriert haben. Die meisten sind selbst aufgenommene Naturbilder: Bäume, Äste, Wolken, Reflexionen der Sonne … Aber es gibt auch Aufnahmen städtischer Umgebungen, von Zerstörung und Schutt. Was haben Bilder von etwas so Immateriellem wie Wolken und etwas so Materiellem wie einem abgerissenen Haus gemeinsam? Sie erzeugen Formen, Linien, Farben, Oberflächen – das Ergebnis unerwarteter Interaktionen zwischen Elementen der Natur (Bäume, Blätter, Blüten …) und Fragmenten der Architektur (Mauern, Fenster, Ruinen …). Diese Bilder sind Konstellationen, die unwillkürlich erscheinen und eine Spur einer Vision zeigen – vor dem Verstehen, vor den Worten.


Sehen übersetzt sich nie vollständig in Verstehen. Aber auch das Sehen stößt an seine Grenze: die Grenze des Unsichtbaren. Das, was dem Auge entgleitet und es doch berührt hat. Im Rückzug hat das Unsichtbare eine Spur im Auge hinterlassen – eine Erinnerung, die nicht mehr auffindbar ist und doch unauslöschlich bleibt. Eine Spur wovon? Eine Erinnerung woran? Wo offenbaren sich diese Spuren oder Erinnerungen? In den Zwischenräumen. In unbestimmten Spannungen – zwischen Bild und Titel, zwischen Malerei und Wort. Die Titel von Eva Paulins Gemälden sind manchmal konkret, manchmal abstrakt. Sie wechseln zwischen drei Sprachen: Englisch, Französisch und Deutsch. Jede Sprache hat ihre eigene Ausdrucksweise, einen Rest, der sich nicht in eine andere Sprache übersetzen lässt. In diesem Sinne leben wir alle ständig lost in translation. Zum Übersetzen gezwungen und uns seiner Unzulänglichkeit bewusst. Doch das Vervielfachen der Sprachen bedeutet auch, neue Perspektiven zu öffnen, mehr Zwischenräume, mehr Einbildungskraft zu schaffen. Auch der Wechsel von großen und kleinen Formaten in diesem OEuvre ist nicht zufällig. Unabhängig vom Sujet verweist er auf eine Spannung zwischen dem Intimen, Lyrischen, Subjektiven und dem Epischen, Objektiven, Narrativen – zwei Arten des Sehens, zwei Arten des Berührens. 


Alle Kunst ist das Ergebnis einer Berührung auf einer Haut (Leinwand, Papier, Stein, Bühne …). Welche Art der Berührung brauchen wir heute? Die Kunst des Modernismus und der Avantgarde entstand oft mit harter Berührung: provokativ, aggressiv, kritisch, schockierend, auf Zerstörung und Fragmentierung der Schönheit und der Tradition ausgerichtet. Das Numinose, das Unheimliche. Moderne Künstler verbannten die Schönheit. Sie verbannten Venus – um die bekannte Formulierung der amerikanischen Kunsthistorikerin Wendy Steiner zu gebrauchen. Traumatisiert von Krieg, wirtschaftlicher Depression und technologischem Umbruch, schufen sie unpersönliche, autonome, selbstreferenzielle Werke, die sich weigerten, ihr Publikum zu erfreuen. Abstraktion war ihr Ausdruck, Entfremdung ihre Haltung. Barnett Newman erklärte 1967, er verachte die bürgerliche Lieblichkeit von „Blumen, liegenden Akten und Menschen, die Cello spielen“. Schönheit wurde zum Tabu.


Diese Zerstörungsarbeit war einst notwendig, ist aber zu einer Sackgasse und zum Nihilismus geworden. Für einige Kunstkritiker ist das Ende dieser modernen Kunst fast eine Tatsache. Für Steiner ist das 20. Jahrhundert das Jahrhundert der „autonomen“ Kunst, die sie das Erhabene nennt; das 21. Jahrhundert hingegen das der heteronomen Kunst, die sie mit dem Schönen verbindet. Das Erhabene steht für zerstörerische, entfremdende Kunst, die keine Anerkennung sucht; das Schöne für Kommunikation, Trost, Offenheit und Dialog. Für Steiner ist die Erfahrung von Schönheit eine Form von Kommunikation, ein Austausch zwischen Subjekt und Objekt, bei dem man, indem man etwas als schön erkennt, zugleich die Schönheit in sich selbst erkennt.


In Steiners Theorie von Schönheit als „besonderer Interaktion zwischen einer Person und etwas anderem“ liegt ein starker Fokus auf weiblicher Erfahrung. Durch ihren Geschmack – für ein Objekt oder eine Person – formen Frauen ihr Identitätsgefühl. Ein Wechsel von Rationalismus zu Emotion und Freude: Ich denke, also bin ich wird zu Ich mag, also bin ich. Steiner verfolgt diese Idee über tausend Jahre zurück, zu Schriftstellerinnen und Künstlerinnen. Um das Jahr 1000 schrieb eine japanische Hofdame Das Kopfkissenbuch, in dem sie alles auflistete, was sie mochte oder nicht mochte. Sie reflektierte sogar über diese Leidenschaft selbst: „Wenn ich eine fein gewebte grüne Strohmatte ausbreite und den weißen Rand mit seinen lebhaften schwarzen Mustern betrachte, habe ich das Gefühl, dass ich dieser Welt nicht den Rücken kehren kann – und das Leben erscheint mir kostbar.“ Bemerkenswert daran ist, dass diese Strohmatte fast wie ein autonomes abstraktes Gemälde beschrieben wird! Vielleicht war Schönheit nie ganz aus der Moderne verbannt.


In ihrer Arbeit tritt Eva Paulin in einen Dialog mit dieser modernen Tradition. The Kiss (2023) ist eine explizite Anspielung auf Gustav Klimt. Die überwältigende, fast erdrückende Energie der männlichen Figur wird ersetzt durch zwei ineinander verschlungene Körper in hellen Farben, umgeben – umarmt – von gelben Linien, die sich über die Leinwand kreuzen. Solche Linien – Drähte, Venen, Röhren, Gedärme, Kabel – tauchen in vielen Werken Paulins auf: zugleich organisch und anorganisch, ein dichtes Netzwerk, das alles mit allem verbindet.


Die Diskussion zwischen subversiver und bejahender Kunst darf nicht vergessen lassen, dass Kunst ihre Qualität der „Un-Maß“ (Paolo Virno) behalten muss – ein fortwährendes Infragestellen der Maßstäbe von Code, Konvention und Kultur. Doch dieses „Unmaß“ sollte weiter verstanden werden als bloße Provokation oder Nihilismus. In diesem Sinn könnte die Suche nach dem, was Schönheit heute bedeutet, selbst ein Unmaß sein – als Gegenmaß zu den ökologischen, ökonomischen und sozialen Katastrophen um uns herum.


„Viele sind dünnhäutiger geworden durch die ständigen Schreckensnachrichten über die Kriege“, erklärt Eva Paulin in einem Interview. Auch hier ist das Bild der Haut zentral – und die Vorstellung, dass sie dünner geworden ist im Kontakt mit einer aggressiven Außenwelt. Unsere Haut ist unser letzter Schutz und zugleich unser empfindlichstes Kommunikationsorgan. Wird sie zu dünn oder zu dick, drohen wir, zu verletzlich oder zu gleichgültig zu werden.


„Liebe ist die zutiefst schwierige Erkenntnis, dass etwas anderes als man selbst wirklich ist“, schreibt Iris Murdoch. In ihrem ethischen Denken spielt Liebe eine zentrale Rolle. Der Blick ist dabei entscheidend. Sie plädiert für einen „aufmerksamen, liebevollen und gerechten Blick“ auf die Wirklichkeit – das sei die Grundlage der Moral. Sie erzählt das Beispiel einer Frau, die ihre Schwiegertochter verachtet: Sie hält sie für vulgär und kindisch, verhält sich ihr gegenüber aber tadellos. Dann beginnt sie, ihr eigenes Urteil zu prüfen, schaut neu hin – und sieht eine einfache, spontane, fröhliche junge Frau. Diese Bewegung, das eigene Vorurteil zu überwinden, ist für Murdoch ein Prozess moralischer Läuterung. Eva Paulin formuliert es so: „Meine Wahrnehmung, ihre Vergänglichkeit und die Bedeutung der Wahrnehmung selbst sind die Hauptthemen meiner künstlerischen Forschung. Wahrnehmung ist eng mit meinem Wertesystem verbunden.“


Cartographie de l’invisible (2025) – ein sprechender, poetischer Titel. Das Unsichtbare lässt sich nicht kartieren. Es folgt keiner Geometrie von Längen- und Breitengraden. Und doch wird es in Formen und Farben übersetzt – in eine „Karte“. Die dominierende Farbe ist Blau – das Meer? –, das nach oben hin grünlich und dunkler wird – das Land? Kleine Kreise erscheinen überall – Augen? Auch in der Serie Augen des Universums (2025) sind Augen zentral: Planeten als Augen, die uns ansehen.


Die stärkste Wirkung eines Kunstwerks hat Rainer Maria Rilke in seinem Gedicht Archaïscher Torso Apollos beschrieben. Der Dichter steht im Museum vor dem Torso des Apollo und fühlt sich selbst angesehen. Das Gedicht endet mit den berühmten Zeilen: „Denn da ist keine Stelle,/ die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.“ Vielleicht steht das auch in Verbindung zu Martha Nussbaums Kommentar zu Murdoch: „Es gibt in der liebenden Vision mehr als nur das Sehen. Da ist auch die Bereitschaft, sich sehen zu lassen. Und die Fähigkeit, vor den Unvollkommenheiten des Geliebten die Augen zu schließen. Es gibt die Bereitschaft, für eine Zeit selbst Tier oder Pflanze zu werden – die Schärfe des Bewusstseins aufzugeben im Angesicht eines geliebten Körpers.“ Es geht also nicht nur ums Sehen, sondern auch ums Gesehenwerden – und um die Fähigkeit, nicht zu sehen. Wie kann eine Malerin nicht schauen – und dennoch sehen?


Murdochs Ethik steht dem zynischen, ironischen Zeitgeist entgegen. Ihre Liebe bedeutet Verantwortung und Fürsorge für das konkrete Andere und für die Wirklichkeit als Ganzes. Kunst spielt darin eine zentrale Rolle. Murdoch unterscheidet zwischen Kunst, die unsere Phantasie befriedigt, und Kunst, die unsere Einbildungskraft weckt. Die erste bleibt im Kreis des eigenen „dicken Ichs“, die zweite öffnet uns zur Welt. Aufmerksam zu sehen, was die Natur zeigt – ein einfacher Spaziergang im Wald –, ist eine Übung im Lieben und damit eine moralische Übung.


Es ist kein Zufall, dass die meisten von Eva Paulins Gemälden aus solchen Spaziergängen entstehen – die Fotos bezeugen es. Es sind Übungen im Sehen. Übungen in liebevollem Blick. Übungen in moralischer Selbstverfeinerung. Übungen, um das verborgene Netzwerk zu zeigen, das alles verbindet. Wie in dieser Aussage Paulins, die alle Schlüsselbegriffe vereint: „Die Wirklichkeit der Schönheit ist so unsichtbar wie der Atem. Meine künstlerische Arbeit ist zunächst für mich selbst, dann berührt sie andere. Ich möchte meine Liebe zu den unsichtbaren Dingen des Lebens vermitteln. Ich möchte die Aufmerksamkeit auf den Wert der subjektiven Wahrnehmung lenken. Bilder bilden das Wesen meines Glaubens an Schönheit und Güte. Jedes Bild ist ein Stück meiner Überzeugung, dass das Leben wertvoll und lebenswert ist. In meiner Suche nach dem Sinn des Lebens möchte ich andere einladen, die Magie meiner imaginären Bildräume zu teilen.“ 


Schönheit, Liebe, Verantwortung, Fürsorge … große, schwer greifbare, vielleicht sogar unzeitgemäße Worte – aber ist das nicht genau das Unmaß, das wir heute brauchen? Und was, wenn wir das Wort Magie durch Politik ersetzen? Der deutsche Filmemacher Wim Wenders formulierte es so: „Die wichtigste politische Entscheidung, die man trifft, ist, wohin man die Augen der Menschen lenkt. Mit anderen Worten: Was man ihnen Tag für Tag zeigt – das ist Politik.“


Erwin Jans

Dramaturg

Eva Paulin

Tel: + 35 26 216 144 14

Mail: art@evapaulin.com

Web: www.evapaulin.com

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